Psychologie oder Integrität?

Von Georg Sieber

In einer (d e r?) Zeitschrift für „Personal und Management“ feiert mancher Aberglaube fröhliche Wiederauferstehung: Heute: Personal mit Integritätsstörungen. Das bedroht den modernen Betrieb, wie Experten behaupten.

Apropos: Was genau heißt eigentlich Integrität? Das Wort entstand aus dem lateinischen Eigenschaftswort „intacta“ Die Silbe „in“ steht für „un“ und das „tacta“ gehört zu dem Tätigkeitswort „tangere“ ~berühren, ~ beschädigen. So verrät es das Lexikon. Integer ist also zu übersetzen mit „unberührt“ und oft auch mit „unbeschädigt“. „Virgo intakta“ nennen die Mediziner noch heute eine Jungfrau. Das war ehedem eine Art Ehrentitel.

Die integre bzw. intakte Person am Nachbartisch oder im Büro muss aber keineswegs eine Frau sein. Integer bedeutet heute nur noch: diese Person hat bisher nichts mit Strafgerichten zu tun gehabt, sie blieb unbeschädigt von Freiheitsstrafen, also von Haft- oder Isolationsfolgen.

Integritätstheoretiker schließen vorzugsweise direkt von der Vergangenheit auf die Zukunft: Von integren Personen ist gegenwärtig nichts zu befürchten. Da ist also keine Gerichtsstrafe auf dem Kerbholz, kein Polizeibeamter ermittelt wegen Rauferei und sonstigen Tätlichkeiten. Der Integre ließ sich nichts zu Schulden kommen und hat auch keine Schulden – von ihm wäre also künftig nichts Böses zu erwarten.

Theoretiker glauben gern, die Menschen seien mehrheitlich integer. Sie seien die Guten, die auch „am Arbeitsplatz“ produktives Miteinander und Wohlbefinden pflegen. Weniger gute Menschen gefährden also das Miteinander und schaden damit dem Betrieb, wie der Kriminalpsychologe warnt. Der aber könnte vielleicht später einmal auf regelrechte Betriebe in Haftanstalten stoßen oder sogar unversehens einem „Freigänger“ begegnen.















Er würde staunen, mit welcher Hochschätzung die freie Wirtschaft die Leistungen amtlich bestätigter Integritätsgestörter verwertet. Wie kann so etwas gut gehen? Wie könnte man sich diese Hochschätzung erklären? 

Ein paar Antworten bekommt man schon auf Anhieb.

Hohe Akzeptanz genießen JVA-Insassen - weil

  • sie einfachst-Tätigkeiten zu Niedrigstlöhnen annehmen?

  • Arbeit etwaige „Integritätsstörungen“ zuverlässig heilt ?

  • Praktische Arbeit immer ein Teil jeder Strafe sein muss?

  • Weil arbeitende JVA-Insassen für erfreuliche Gewinne sorgen?

Man hört dieses und jenes. Bewiesen ist davon bisher nichts.


Die Warnung vor Integritätsmängeln ist höchstwahrscheinlich einfach falsch. Wie käme man denn sonst mit sämtlich Integritätsgestörten zu einem erfolgreichen Betrieb? Oder ist alles ganz anders? Beruhen viele der Haftstrafen in Wirklichkeit auf Fehlurteilen? Die These vom hohen Schädigungsrisiko durch Integritätsstörungen wäre ohnehin erst noch zu beweisen.

Untergräbt der Kriminalpsychologe mit seiner Warnung gar die Wiedereingliederung ehemaliger Straftäter? Andererseits ist sein Rat an die Personaler eindeutig:

„Personalverantwortliche sollten also genau aufpassen, wen sie ins Unternehmen holen.“ Der vorgebliche Integritätsexperte erklärt rückhaltlos, was es heißt, „manipulatives und betrügerisches Verhalten zu erkennen.“ Immerhin führt er im Namen auch den Doktortitel und weckt hohe Erwartungen.

Der Aberglaube von der Integrität kommt von weit her aus der Sagenwelt. Inzwischen wurde er zum wichtigsten Baustein westlichen Glaubenslebens. Taufe, Erbsünde und die priesterliche Vergebung der Sünden würden ohne die gnadenreiche Integritätsidee hilflos dastehen. Die westlich-christliche Tradition half den Regierungen, die Kernstücke der Sündentheologie in ihre Gesetzbücher einzufügen. Verstöße werden heute mit einer „Freiheitsstrafe“ geahndet. Gegen alles Böse gibt es das Allheilmittel: Freiheitsentzug. So direkt geht das allerdings in einem üblichen Betrieb nicht. Da wird dem schweren Sünder gekündigt. Lässliche Sünder büßen mit Lohn- und/oder Befugnisbeschränkungen.

An dieser Stelle machen Integritätsautoren einen lockeren Sprung über alles, was die Verhaltensforschung bisher zutage gefördert hat. Sie behaupten: Die Neigung zu Integritätsverstößen beruhe auf der menschlichen Natur und komme vorhersagbar zur Geltung – ob im Privaten oder Beruflichen, ob zuhause oder am Arbeitsplatz. Die Neigung etwa zum Schädigen, Stehlen oder Streiten stecke in der Persönlichkeit, sozusagen. Daher solle, ja sogar dürfe man auch nur erkennbar integre Menschen an sich heranlassen. Der wunderbare Rat: Meiden Sie unbedingt jedes „desintegrative“ Gegenüber.

In einem kurzen Augenblick selbstkritischer Ehrlichkeit könnte jemand auf die Idee gekommen sein, auch er selber sei vielleicht nicht ganz so integer, wie sich das Arbeitgeber wünschen könnten. Gleich als weiterführende Gewissensprüfung: Gibt es messbare, sichere Abstufungen dieser Integrität?

Ab welcher Menge und Wirkung sollte denn ein Betrieb dem Kandidaten die Tür weisen? Und könnte vielleicht ein guter Kriminalpsychologe wirklich feststellen, dieser oder jeder Mensch leide an einer geringen, mittleren oder heftigen Neigung zu Integritätsverstößen?

Täten dann nicht Staat oder Stadt gut daran, Personen mit dieser erblichen Neigung zu Integritätsverstößen frühzeitig in Gewahrsam zu nehmen? Aber dann auch umgekehrt: Könnte ein Delinquent auf Schadensersatz klagen, weil ihm präventive Aufklärung sorglos versagt wurde? Tatsächlich wäre dergleichen wohl die Folge einer konsequenten Integritätspolitik.

Sie geriete zur Politik einer Diktatur, wie sie Hannah Arendt nicht grausamer hätte ausdenken können. Die Diktatur der Integrität sollte mehr gefürchtet werden, als mangelhafte Deutschkenntnisse ihrer Apostel.


Unser Autor

Ge­org M. Sie­­­ber, Jahr­­­­­gang 1935, ist Di­­­­plom­­­psy­­­­cho­­­­­­lo­­­ge in Mün­­­­­chen. 1964 grün­­­­­de­­t­e er sein In­­­s­­ti­­­­­tut für An­­­­­­ge­­­­­­wand­­­­­te Psy­­­­cho­­­­­­lo­­­­gie, die In­­­­­te­l­­l­i­­­­­genz Sys­­­­tem Tran­s­­­­­­fer GmbH (11 Nie­­­der­­­­­las­s­­­un­­g­­en). Sein per­­­­­­sön­­­­­­li­ch­­es In­­­­­te­r­­­­­es­­­sen­­­­­­ge­­­­­biet sind Schrif­­­­t­­en his­­­­­­to­­­r­­i­sch­­­­er Vor­­­­­­läu­­f­­­er der heu­­­­t­­i­­­gen Psy­­­­­cho­­­­­­lo­­­­­gie, de Fe­­­­de­­r­­­i­­co II., Ma­­­chi­a­­­­vel­­li, Pa­­­l­la­­d­i­o, Í­­ni­­go Ló­­pez de Lo­­­yo­­­la sowie Descartes.

Für den fach­­­­­li­ch­­­en Aus­­­­­tausch steht er ger­­­ne zur Ver­­­­­fü­­g­­­ung: 089 / 16 88 011 oder per e­Mail: Georg.Sieber@IST-Muenchen.de

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