Einmal Förderschüler - immer Förderschüler?

 

Nenad M. ist Roma. Die gesetzliche Schulpflicht ist für seine Eltern selbstverständlich. Seine Schulkarriere beginnt in Bayern. Aber Nenad ist nicht wie die anderen Kinder. Ein „IQ-Test“ begründet 2004 das Ergebnis “Förderbedarf“. Mit den Eltern wechselt er 2009 in das Bundesland NRW. Nenad bekommt seine Diagnose mit auf den Weg und wird dann auch in NRW der „Sonder“- bzw. „Förderschüler“ wegen „Rückstand in der geistigen Entwicklung“. Nenad ist unangepasst. Zuweilen zeigt er Aggressivität. Der vermeintlich Behinderte rebelliert. Gegen die Schule. Gegen die Eltern. Gegen all die Pflichten. Das Lehrpersonal sieht damit die „Diagnose“ bestätigt. Angeblicher Entwicklungsrückstand wird zur realen Behinderung. Die Wende kommt erst nach 11 Jahren.


In Köln hat Nenad Hilfe gefunden. Der „Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung“ hatte den Schulabschluss schon im ersten Versuch blockiert. Das wird nun von Jahr zu Jahr fortgeschrieben. Eine Beraterin und eine Anwältin (Anneliese Quack aus Hürth) schleppen Nenad über die Paragrafenwälle der Bildungsbürokratie. Der inzwischen 18-Jährige findet das Tor in die „Arbeitswelt“. (siehe Googlesuchwort Nenad M.)

Die Geschichte ist schnell geschrieben. Die Funke Mediengruppe hat ein paar Artikel über den Fall Nenad Mihailovic gebracht. Es gibt ein Video dazu in der Mediathek. Darin ist wiederholt die Rede vom „i-ku“. Es gibt zwar keinen „IQ-Test“ mit dem sich die geistige Entwicklung eines Kindes feststellen ließe. Bildung ist aber Ländersache. Nur Bayern und NRW sind sich einig. Der IQ hat schon oft wichtige Jugend- und Erwerbsjahre gekostet. Seine Prominenz hätte es verdient, ernst genommen zu werden. Dann aber müssten ein paar Menschen mehr wirklich wissen, was ein Quotient ist und was man so um 1905 in Berlin unter Intelligenz verstand. Damals fand William Stern, man könne anhand eines Quotienten die schulischen Leistungen von Kindern unterschiedlichen Lebensalters rechnerisch vergleichen. Seit dem Hype um Daniel Golemans „EQ. Emotionale Intelligenz“ darf man aber bezweifeln, dass da sehr viele Menschen folgen können. Ute Frevert, seit 2008 am Berliner MPI für Bildungsforschung, gibt dazu als Historikerin lesenswerte Auskünfte zur „Geschichte der Gefühle“.

Dem steht die Frage gegenüber, wie denn ein Migrantenkind wie Nenad M. in Bayern oder NRW zu seinem IQ fand. Da waren leider schlimme Finger in Amt und Würden am Werk. Das Lehramtsstudium würde gewiss gewinnen, wenn alle Studierenden über die Fehlbarkeit ihrer Bewertungen und Messungen solide aufgeklärt werden würden. Sie würden sich nur noch mit maximaler Vorsicht zu Intelligenz, Reife, Entwicklungsrückstand oder Eignung äußern. 


Und gewiss würden sie damit ertüchtigt, ihre eigenen Grenzen reflektieren. Die Intelligenzanpassung, die das Kind seinen Eltern, seiner Schule und deren Lehrpersonal verdankt, ist eben nicht mit ein paar vorgedruckten Fragebogen und anzukreuzenden Antwortkästchen einzufangen. Über 60 Details der Testanwendung formen den einzelnen Messwert, der die objektive Vergleichsbasis sein soll. Der Messraum, die Sitzordnung, die Arbeitsfläche, die Helligkeit, die Störfaktoren, die Tageszeit – und vieles mehr muss vergleichbar sein, wenn es ein wahres, ein aussagetüchtiges Messergebnis sein soll.  


Eine besonders dramatische Fehlerstrecke liegt in der Auswertung. Erst radikale Digitalisierung sorgt für eine akzeptable Fehlerrate. Zehn oder fünfzehn falsch ausgewertete Aufgaben sind heute noch so selbstverständlich, dass noch immer nicht sicher feststeht, ab wieviel Zähl-Fehlern das Testergebnis zu verwerfen ist. Und so könnte es endlos weitergehen bis hinaus in die Cerebral-Finessen. Am Ende würde man ja gern wissen, was denn nun eine Lern-„Störung“ oder -„Behinderung“ ist.

Wenn wir uns an die Phase erinnern, in der wir selber Lehrer und besonders auslandswillige Lehrer finden mussten… . Da waren wir doch verunsichert, wieviele Defizitäre es da gab. Sollten wir nicht die Ärmel aufkrempeln, in die Schafpferche einbrechen und am Ende die schlimmsten Gauner und Hochstapler erschrecken, die das IQ- und Pseudotesten als Lebensunterhalt betreiben? Es gibt viel zu tun! Millionen Migranten warten wohl nicht auf uns – aber vielleicht sind es 10 oder 20 tausend, unter denen wir dann ein paar hundert Begabungen fänden.






Unser Autor

Ge­org M. Sie­­­ber, Jahr­­­­­gang 1935, ist Di­­­­­plom­­­psy­­­­cho­­­­­­lo­­­ge in Mün­­­­­chen. 1964 grün­­­­­de­­t­e er sein In­­­s­­ti­­­­­tut für An­­­­­­ge­­­­­­wand­­­­­te Psy­­­­cho­­­­­­lo­­­­gie, die In­­­­­te­l­­l­i­­­­­genz Sys­­­­tem Tran­s­­­­­­fer GmbH (11 Nie­­­der­­­­­las­s­­­un­­g­­en). Sein per­­­­­­sön­­­­­­li­ch­­es In­­­­­te­r­­­­­es­­­sen­­­­­­ge­­­­­biet sind Schrif­­­­t­­en his­­­­­­to­­­r­­i­sch­­­­er Vor­­­­­­läu­­f­­­er der heu­­­­t­­i­­­gen Psy­­­­­cho­­­­­­lo­­­­­gie, de Fe­­­­de­­r­­­i­­co II., Ma­­­chi­a­­­­vel­­li, Pa­­­l­la­­d­i­o, Í­­ni­­go Ló­­pez de Lo­­­yo­­­la u.a.

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